Gedicht des Monats

Gedicht des Monats: Freiheit

von Erich Fried (1921 – 1988)

Zu sagen
hier herrscht Freiheit
ist immer ein Irrtum
oder eine Lüge:
Freiheit
herrscht nicht

 








Livestream-Veranstaltung: „Rettung der Welt vor der Wirklichkeit“
100 Jahre Erich Fried – Filmschau und Gala am 8. Mai 2021 von 16 bis 23 Uhr
präsentiert vom Kulturmagazin Melodie & Rhythmus und der Tageszeitung junge Welt
https://www.jungewelt.de/artikel/399977.fried100-rettung-der-welt-vor-der-wirklichkeit.html

Gedicht des Monats: Wir pflücken Blumen

von Hannah Szenes (1921-1944)

Wir pflückten Blumen in den Feldern und auf den Bergen,
wir atmeten den frischen Frühlingswind.
Die Sonne durchdrang uns mit ihren warmen Strahlen
in unserer Heimat, in unserem geliebten Land.

Wir gehen zu unseren Brüdern ins Exil,
zu den Leiden des Winters, zum Frost in der Nacht.
Unsere Herzen werden vom Frühling erzählen,
unsere Lippen singen das Lied des Lichts.

(1944)



Hannah Szenes war eine ungarische Widerstandskämpferin. 1921 in Budapest geboren, emigrierte sie 1939 nach Palästina. 1943 trat Hannah der britischen Armee bei und gehörte einer Gruppe von Freiwilligen an, die sich zum Einsatz in Europa meldeten, um hinter den feindlichen Linien mit dem Fallschirm abzuspringen. Der Zweck dieses Unternehmens war, die Alliierten in ihren Bemühungen zu unterstützen und Kontakte zu Partisanen und Widerstandskämpfern herzustellen, um den bedrohten jüdischen Gemeinden zu helfen. Szenes wurde in Ägypten ausgebildet und da sie ihre Heimatstadt Budapest erreichen sollte, sprang sie im März 1944 über Jugoslawien ab und verbrachte drei Monate mit den Tito-Partisanen.
Am 7. Juni 1944, als die Deportationen der ungarischen Juden ihren Höhepunkt erreichten, überschritt Hannah die ungarische Grenze. Sie wurde von der ungarischen Polizei gefangengenommen. Obwohl sie in den nächsten Monaten immer wieder gefoltert wurde, lehnte sie es ab, Informationen zu verraten. Während ihres Prozesses im Oktober verteidigte sie standhaft ihre Tätigkeit und weigerte sich, um Gnade zu bitten. Als sie am 7. November erschossen wurde, lehnte sie eine Augenbinde ab und sah den Vollstreckern ins Gesicht.

Gedicht des Monats: Das ist’s

von Hilde Meisel

Das ist‘s, was dir im Leben Stärke und Zuversicht und Kühnheit gibt:
Dass du‘s alleine nicht bist, der Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit liebt;

dass Tausende von Menschen kämpfen für das Ziel, das auch du erstrebst,
dass Tausende von Menschen starben für das, wofür du kämpfend lebst.

Das ist es, was an schweren Tagen erneut dir Kraft und Mut verleiht:
Dass andere gelitten haben in unvergleichlich härtrer Zeit;

dass keine Macht sie hindern konnte und keine Opfer und Gefahr,
den schweren Kampf ums Recht zu führen, der manchmal dann erfolgreich war.


Hilde Meisel, auch Hilde Monte genannt, war bei der „Machtergreifung“ des Nationalsozialismus gerade 19 Jahre alt und kam aus der Jugendbewegung (aus dem Bund des im KZ ermordeten Hans Litten). Ihre Familie – sie war Jüdin – emigrierte, und auch Hilde Meisel ging ins Ausland, kam von dort aber immer wieder illegal nach Deutschland zurück, um für eine sozialistische Widerstandsgruppe Kurierdienste zwischen In- und Ausland zu leisten. Nebenher veröffentlichte sie schon früh Beiträge politischer und ökonomischer Art; 1940 erschien beim Victor Gollancz Verlag in London eine Schrift von ihr über die Möglichkeiten einer europäischen Einigung. Im Frühjahr 1945 ging sie von der Schweiz aus ein letztes Mal illegal nach Deutschland, um dort zu helfen. Auf dem Rückweg wurde sie an der Grenze von einer SS-Patrouille erschossen.

Quelle: https://www.volksbund.de/fileadmin/redaktion/Mediathek/LV_Bayern/Widerstand_gegen_den_Nationalsozialismus_Lehrerhandreichung.pdf

Gedicht des Monats: Der Kamin

von Ruth Klüger (30.10.1931 – 06.10.2020)

Täglich hinter den Baracken
Seh ich Rauch und Feuer stehn,
Jude, beuge deinen Nacken,
Keiner hier kann dem entgehn.
Siehst du in dem Rauche nicht
Ein verzerrtes Angesicht?
Ruft es nicht voll Spott und Hohn:
Fünf Millionen berg ich schon!
Auschwitz liegt in meiner Hand,
Alles, alles wird verbrannt.

Täglich hinterm Stacheldraht
Steigt die Sonne purpurn auf.
Doch ihr Licht wirkt öd und fad,
Bricht die andre Flamme auf.
Denn das warme Lebenslicht
Gilt in Auschwitz längst schon nicht.
Blick zur roten Flamme hin,
Einzig wahr ist der Kamin.
Auschwitz liegt in seiner Hand,
Alles, alles wird verbrannt.

Mancher lebte einst voll Grauen
Vor der drohenden Gefahr.
Heut‘ kann er gelassen schauen,
Bietet ruh’g sein Leben dar.
Jeder ist zermürbt von Leiden,
Keine Schönheit, keine Freuden,
Leben, Sonne, sie sind hin,
Und es lodert der Kamin.
Auschwitz liegt in seiner Hand,
Alles, alles wird verbrannt.

Hört ihr Ächzen nicht und Stöhnen,
Wie von einem, der verschied?
Und dazwischen bittres Höhnen,
Des Kamines schaurig Lied:
Keiner ist mir noch entronnen,
Keinen, keine werd ich schonen.
Und die mich gebaut als Grab
Schling ich selbst zuletzt hinab.
Auschwitz liegt in meiner Hand,
Alles, alles wird verbrannt.

(1944)



Ruth Klüger

Gedicht des Monats: Wollen Sorgen mich umschlingen

von Wolfgang Szepansky

Wollen Sorgen mich umschlingen,
will die Einsamkeit mich quälen,
weiß ich stets durch frohes Singen
Mut und Geist und Herz zu stählen.

Reiße wohl das Fenster auf,
jag die bösen Geister fort,
nehme alle Kraft zuhauf,
wünsch mich an den schönsten Ort.

Und mir ist es nun,
als könnten Mauern mich nicht halten.
Ich kann lassen, ich kann tun,
kann wie freie Menschen walten.

Neue Zukunftsmelodien
will ich mutig singen!
Und ich triumphiere kühn:
Ihr könnt mich nicht zwingen!


Wolfgang Szepansky (* 9. Oktober 1910 in Berlin-Wedding; † 23. August 2008 in Berlin-Schöneberg) war ein deutscher Antifaschist, kommunistischer Widerstandskämpfer, Autor und Maler.

Als die deutsche Wehrmacht im Mai 1940 in die Niederlande einfiel, wurde Wolfgang Szepansky in das KZ Sachsenhausen verbracht. Wegen des Zusammenlebens mit einer holländischen Jüdin wurde er aus Gründen der „Rassenschande“ zu zweijähriger Gefängnishaft verurteilt, die er im Strafgefängnis Tegel in Berlin verbüßte. Dort entstand das Gedicht. Danach wurde er wieder in das KZ Sachsenhausen zurückgebracht. Dort 1945 befreit.

Quelle: Autobiografie „Dennoch ging ich diesen Weg“.

Gedicht des Monats: Vorsichtige Hoffnung

von Hilde Domin

Weiße Tauben
im Blau
verbrannter Fensterhöhlen,
werden die Kriege für euch geführt?

Weiße Taubenschnur
durch die leeren Fenster
über die Breitengrade hinweg.
Wie Rosensträucher auf Gräbern
achtlos nehmt ihr das Unsre.
Auf den mit Tränen gewaschenen Stein
setzt ihr das kleine Nest.

Wir bauen neue Häuser,
Tauben,
die Schnäbel der Krane ragen
über unseren Städten,
eiserne Störche, die Nester für Menschen richten.
Wir bauen Häuser
mit Wänden aus Zement und Glas
an denen euer rosa Fuß
nicht haftet.
Wir räumen die Ruinen ab
und vergessen die äußerste Stunde
im toten Auge der Uhr
Tauben, wir bauen für euch:
ihr werdet
durch unsere Fenster fliegen
ins Blau.
Und vielleicht sind dann ein paar Kinder da
– und das wäre sehr viel – ,
die unter euch
in den Ruinen
unserer neuen Häuser,
der Häuser, die wir mit den hohen Kranen
den Tag und die Nacht durch bauen,
Verstecken spielen.

Und das wäre sehr viel.


Hilde Domin wurde als Kind jüdischer Eltern 1909 in Köln als Hilde Löwenstein geboren.
Im Frühjahr 1939 Flucht über Paris nach Großbritannien, im Sommer 1940 über Kanada nach Santo Domingo. Sie veröffentlichte mehrere Gedichtbände, autobiographische Texte, einen Roman und Essays. 2006 starb sie in Heidelberg.