Der Hans-Frankenthal-Preis der Stiftung Auschwitz-Komitee 2023 geht an die Kinder des Widerstands für das Harry und Martha Naujoks Projekt!

Laudatio „Kinder des Widerstands“

Liebe Freundinnen und Freunde, werte Gäste, und vor allem, liebe Kinder des Widerstands,

Schreibt endlich die Geschichte des Hamburger Widerstands!“ Das forderte der Publizist Erich Lüth, bekannt für seinen Aufruf zum Film-Boykott von Veit Harlan, zwanzig Jahre nach der Befreiung vom Naziregime. Inzwischen sind fast 60 weitere Jahre vergangen – und eine Gesamtschau des Hamburger Widerstands steht nach wie vor aus.

Nachkommen derjenigen, die in Hamburg unter Einsatz ihres Lebens Widerstand geleistet haben, tragen jedoch Schritt für Schritt dazu bei, diese Lücke ein wenig zu füllen.

Nach dem Vorbild der Kinder des Widerstands in Nordrhein-Westfahlen hat sich 2017 in Hamburg eine Gruppe zusammengeschlossen, die eines gemeinsam hat: Ihre Eltern oder Großeltern waren im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv. Sie sind aufgewachsen mit den Geschichten ihrer Familien über die Erfahrungen von Widerstand und furchtbaren Erlebnissen von Folter und Haft und zugleich mit einer Haltung des aktiven Antifaschismus. Für etliche Nachkommen ergab sich daraus wie von selbst ein eigenes politisches Engagement, häufig schon seit frühester Jugend.

Eine der Besonderheiten der Kinder des Widerstands ist die Vielfalt der Aufgaben, denen sie sich verschrieben haben. Viele engagieren sich als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Auch organisieren sie Vorträge und Veranstaltungen und geben Bücher heraus. Dabei wirken sie nicht nur nach außen, sondern haben sich auch ein Plenum geschaffen, das Raum bietet für einen geschützten Austausch über ihre eigenen Erfahrungen:

 „Die Konfrontation mit dem Leid und dem Kampf unserer Eltern und Großeltern hat unser Leben entscheidend mitgeprägt“, heißt es auf ihrer Website. „Wir versuchen Dinge zu entschlüsseln, die uns noch verborgen sind, möchten erfahren, […] wie andere mit dem umgehen, was uns geprägt hat und weiter beschäftigt.“

Ich halte das für eine enorm wichtige Arbeit. Unter Nachkommen von Holocaust-Überlebenden ist ein solcher Austausch über die Nachwirkung von Verfolgungserfahrungen heute keine Seltenheit mehr. Helen Epstein, Tochter von Überlebenden der Lager Auschwitz und Neuengamme und Pionierin der Forschung über transgenerationelle Verfolgungserfahrung, beschrieb ihren eigenen Leidensdruck in ihrem 1979 veröffentlichten Buch „Kinder des Holocaust“ so:

„Lange Jahre war es in einer Art Kasten tief in mir vergraben. Ich wußte, daß ich – verborgen in diesem Kasten – schwer zu erfassende Dinge mit mir herumtrug.“

Während ich als Archivarin der KZ-Gedenkstätte Neuengamme gearbeitet habe, bin ich immer wieder mit Angehörigen von KZ-Häftlingen aus vielen Ländern zusammengekommen, die sich ihren eigenen „inneren Kästen“ mit spürbarem Mut und großem Kraftaufwand genähert haben. Je nach Verfolgungshintergrund ihrer Familie konnten sie dafür mehr oder weniger Orientierung und Unterstützung von außen finden.

Ich stelle mir vor, dass es für die Kinder von verfolgten Kommunist*innen in Westdeutschland besonders schwer war, über ihre eigene Situation ins Gespräch zu kommen. Sie mussten nicht nur Erzählungen oder auch das Schweigen in den Familien über extrem schmerzhafte Verfolgungserfahrungen aushalten, sondern auch den Antikommunismus in der Bundesrepublik sowie das Parteiverbot der KPD und seine gesellschaftlichen wie persönlichen Folgen.

Vor diesem Hintergrund habe ich besonderen Respekt davor, wenn die Kinder des Widerstands nun auch Lebensgeschichten und Biographien von Menschen wie Martha und Harry Naujoks in die Öffentlichkeit bringen, zu deren vielschichtigen Erfahrungen auch Brüche mit ihrer eigenen Partei gehörten. An unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten mussten beide mit Ausschlüssen aus der KPD zurechtkommen.

Wer, wenn nicht Ihr, so frage ich mich, kann über solche Geschichten aus einer ehrlichen und zugleich solidarischen Perspektive erzählen?

Die Doppelbiographie von Martha und Harry Naujoks ist bereits das fünfte Buchprojekt der Kinder des Widerstands.

Als erstes Buch gaben sie 2020 den autobiographischen Bericht von Katharina Jacob „Widerstand war mir nicht in die Wiege gelegt“ heraus. Es folgten weitere Veröffentlichungen:

  • „Gertigstraße 56“ von Ruth Stender,
  • „Ich überlebte. Die Nazis, die französischen Juden, die Kollaboration und die Résistance.“ von Michel Zilberstein
  • und gerade frisch in diesem Jahr: die Neuauflage des Buchs „Sperlingskinder“ von Antje Kosemund.

Alle diese Bücher sind familiengeschichtlich orientiert und thematisieren Erfahrungen des Widerstands. Dass es zum Selbstverständnis der Kinder des Widerstands gehört, neben der politischen Verfolgung auch andere Formen der NS-Verfolgung zu thematisieren, drückt sich, wenn Sie mir diese Nebenbemerkung gestatten, bereits in ihrem Logo aus. Der Winkel, mit dem KZ-Häftlinge in den Lagern gekennzeichnet wurden, wird in dem Logo aus den unterschiedlichen Farben der Verfolgtenkategorien zusammengesetzt.

Unsere Stiftung wird häufig um Unterstützung für die Publikation von Erinnerungen von NS-Verfolgten und deren Angehörigen gebeten.

Wenn wir uns in dieser Frage an Verlage wenden, bekommen wir nahezu überall die gleiche Antwort: „Dafür gibt es keinen Markt, der ist doch längst gesättigt.“

Bücher über Widerstandserfahrungen herauszugeben, ist keine gewinnträchtige Angelegenheit. Wir wissen, wie schwer es ist, das Geld zusammenzubekommen, um ein solches Buch zu veröffentlichen. Kosten und Mühen scheuen darf man dabei nicht.

Einer der viele Wege, den die Gruppe beschreitet, sind Subskriptionsangebote. Das ist ein Vorab-Kaufs-Verfahren – das Buch wird von Interessierten schon vor Erhalt bezahlt, um so die Druckkosten zusammenzutragen. Wer mitmachen will, kann dies auf der Website des Verlags „Galerie der abseitigen Künste“, der die Gruppe mit der Veröffentlichung ihrer Bücher unterstützt, sehr gern tun.

Die Doppelbiographie über Martha und Harry Naujoks, für die die Kinder des Widerstands heute ausgezeichnet werden, ist das bisher ambitionierteste Werk der Gruppe. Mangels Finanzierung ist es noch nicht erschienen und ich bin sicher, dass das Preisgeld des Hans-Frankenthal-Preises einen sehnsüchtig erwarteten Beitrag dazu leisten wird, dass es nun erscheinen kann.

Auch wenn die Arbeit der zu ehrenden Gruppe heute im Mittelpunkt steht, würde ich Ihnen wenigstens ganz kurz gern noch etwas über das Leben von Harry und Martha Naujoks erzählen.

Harry Naujoks ist vielen von uns durch das Buch „Mein Leben im KZ Sachsenhausen 1936–1942. Erinnerungen des ehemaligen Lagerältesten“ bekannt. Das mittlerweile längst vergriffene Buch gehört zu den Standardwerken über die Konzentrationslager, deren internen Lagerhierarchien und über die Möglichkeiten und ihre Grenzen, dort während der Haft Widerstand zu leisten.

Über Harry Naujoks Erfahrungen und Wirken als Lagerältester im KZ Sachsenhausen ist in dem Buch viel zu erfahren, sein Leben jenseits der dort behandelten Jahre, etwa seine Rolle in der Hamburger KPD vor wie auch nach der NS-Zeit oder sein Wirken im Widerstand bis zu seiner Verhaftung kommen dort nicht vor. Und auch sonst ist nur sehr wenig über ihn veröffentlicht. Für Martha Naujoks, ihre Widerstandsarbeit in der Illegalität und ihr von schwierigen Erfahrungen geprägtes Exil in der Sowjetunion gilt dies nicht minder.

Wer mehr über die beiden erfahren möchte, ist sehr herzlich zu der Veranstaltung „Über Leben im Inferno – Harry und Martha Naujoks und das KZ Sachsenhausen“ eingeladen, die am 27. November im Geschichtsort Stadthaus stattfinden wird.

Eine Doppelbiographie zu schreiben, ist aufwändig. Der Gruppe Kinder des Widerstands war dies allerdings noch nicht genug. Von Anfang an wollte sie dies mit einer Neuedition von „Mein Leben im KZ Sachsenhausen“ verbinden, in der auch die Entstehungs-, Bearbeitungs- und Wirkungsgeschichte des Buches mit untersucht und dargestellt wird.

Dafür war zunächst einmal qualifizierte Forschung nötig. Die Gruppe hat dafür den Historiker Henning Fischer gewinnen können. Zur Doppelbiographie und Neuedition sollen noch weitere Beiträge kommen, die die Biographien von Harry und Martha Naujoks historisch einordnen.

Das ist zu viel für ein Buch? – Macht nichts, wir veröffentlichen einen Doppelband. Das wird doch viel zu teuer? – Wir finden schon einen Weg.

Ich bin beeindruckt von der Entschlossenheit der Gruppe, ihr Buchprojekt trotz fehlender Mittel in der bestmöglichen Qualität zu realisieren. Ihr Herangehen, sich von Schwierigkeiten nicht entmutigen zu lassen, sondern, das eigene Ziel fest vor Augen, Schritt für Schritt nach Unterstützung und nach Lösungen zu suchen, hat mir imponiert.

Es freut mich außerordentlich, dass sich die Stiftung-Auschwitz-Komitee entschieden hat, heute mit der Verleihung des Hans-Frankenthal-Preises nicht nur dringend benötigtes Geld für die Naujoks-Doppelbiographie zu stiften, sondern die Arbeit der Gruppe Kinder des Widerstands als Ganzes zu ehren und auszuzeichnen.

 „Mögen unsere Lebens- und Familiengeschichten die Menschen von heute zu einer widerständigen Haltung gegen Rassismus, Antisemitismus und Geschichtsrevision, gegen Ignoranz, Menschenverachtung und Kriegstreiberei anregen.

Als Nachkommen der NS-Verfolgten, des Widerstands und des Exils wollen wir uns gemeinsam für eine Welt des Friedens, der Freiheit und der Solidarität einsetzen,“ schreibt Ihr auf Eurer Website.

Ich wünsche Euch von Herzen Erfolg bei Eurem Weg zu diesem Ziel, das angesichts der aktuellen außen- wie innenpolitischen Entwicklungen in immer weitere Ferne zu rücken scheint.

Ich hoffe, dass der Preis heute Euch Kraft gibt, diesen Weg Schritt für Schritt immer weiter zu gehen und wünsche Euch, dass Ihr dabei immer mehr Verbündete finden werdet, die Euch auf diesem Weg begleiten.

Alyn Šišić 

Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen
Leiterin Gedenkstätten Bullenhuser Damm, Fuhlsbüttel, Poppenbüttel, Geschichtsort Stadthaus