Der Zweite Weltkrieg war keine Strafe Gottes. Menschlicher Egoismus, politisches Abenteurertum und unersättlicher Militarismus sind als seine eigentlichen Anstifter zu nennen. Auf ihnen lastet die Verantwortung dafür, dass die Gewalt so auswuchern und so lange toben konnte. Diesen Irrsinn, die himmelschreienden Verstöße gegen jede Moral, sollten 100 Millionen Menschen mit dem Leben bezahlen. Die Verwüstung ganzer Kontinente, die Vernichtung unersetzlicher Schätze der Geschichte und Kultur waren der Preis für den Größenwahn einzelner Persönlichkeiten und ganzer Nationen.
Die bis 1991 aufgedeckten Verluste der Sowjetunion übersteigen 27,6 Millionen Menschen.
Zwei Drittel von ihnen waren Zivilisten. In Belorussland kam jeder vierte, in Leningrad, in den Gegenden um Smolensk und Pskow jeder dritte Einwohner ums Leben. Unmenschlichkeit machte vor niemandem halt – weder vor Jungen und Alten noch vor Kranken und Elenden. 1418 Tage und Nächte verschmolzen zu dem übermenschlich schweren, tragischen und zugleich heroischen Kampf des Sowjetvolkes gegen die Hauptkräfte Nazideutschlands. Die nationale Existenz der Sowjetunion stand auf dem Spiel. Den Aggressor im direkten Kampf zu besiegen oder unterzugehen – ein Drittes gab es nicht, ganz gleich für welche Strategie und Taktik die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition sich entscheiden sollten, aus welchen Gründen auch immer sie es mit der zweiten Front nicht eilig hatten.
An der Ostfront verlor das „Dritte Reich“ zehn Millionen tote, verwundete oder gefangen genommene Soldaten und Offiziere, 48 000 Panzer und Sturmgeschütze, 167 000 Artilleriesysteme, 17 000 Kriegs- und Transportschiffe. Die Rote Armee zerschlug 607 Divisionen des Gegners beziehungsweise nahm die verbliebenen Soldaten gefangen. Das waren drei Viertel der gesamten deutschen Verluste. Dies zur Klarstellung, wo der Zweite Weltkrieg entschieden wurde.
Verlauf und Ausgang des Krieges kann man unterschiedlich sehen und bewerten. Bestimmte Schlussfolgerungen drängen sich förmlich auf, wenn man die Tatsachen – alle Tatsachen und nur sie – zugrunde legt. In ganz anderem Licht erscheinen jedoch die dreißiger und vierziger Jahre, wenn man von unerfüllten Hoffnungen ausgeht oder die Geschichte den aktuellen politischen Interessen unterwirft.
Welchen Sinn sollen also die unerhörten Opfer des Weltenbrandes haben – dem Krieg ein für allemal ein Ende zu setzen oder unsere Erde in einen Kriegsschauplatz für noch mörderischere Waffen zu verwandeln? „… wenn wir Partner bleiben, findet sich keine Kraft auf dieser Erde, die das Risiko eingeht, einen neuen Krieg anzuzetteln.“ Das stellte General Eisenhower in seinem Brief vom 6. November 1945 an Marschall Schukow fest. Und er hat gewiss recht gehabt, sollte nicht der Begriff Partnerschaft seines Sinnes beraubt werden. Wenn aber der verborgene Zweck des Weltkriegs lediglich eine Neuaufteilung der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Weltkarte gewesen sein sollte, dann waren auch die nächsten Mutationen der Gewalt vorprogrammiert.
Nach neuesten Bekenntnissen führender Politiker der NATO zu urteilen, war die zweite Front nicht so sehr als das Schlusskapitel des Kampfes gegen Nazideutschland als vielmehr als der erste Akt des „Befreiungsfeldzuges“ gegen Stalins Sowjetunion oder das „imperiale“ Russland gemeint. Wer mit solchen Vorstellungen schwanger geht, entwertet die Landung in der Normandie zum Prolog des Kalten Krieges. Auf dem Höhepunkt des verfluchten Kalten Krieges hat der Militarismus Berge von Waffen aufgehäuft, die ausreichen, um 600 000 neue Hiroshimas anzurichten und 2400 Kriege von den Ausmaßen des Zweiten Weltkrieges zu führen. Dem Moloch hat man in der sogenannten Nachkriegszeit mehr Ressourcen dargebracht als allen bewaffneten Konflikten seit Menschengedenken.
Ist das nicht Verrat an 100 Millionen Menschen, die von 1931 bis 1945 aus dieser Welt schieden, um künftige Generationen vor den Schrecken der Gewalt zu bewahren und ihnen einen Leitstern des Friedens auf den Weg zu geben? Ist dies der Grund dafür, weshalb der grausamste und blutigste aller Kriege der Geschichte nicht in einem Friedensvertrag sein logisches Ende fand?
Schon deshalb darf man die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges mit denen des „Kalten Krieges“ nicht verwechseln. Es war der „Kalte Krieg“, unter den im Jahre 1990 ein Schlussstrich gezogen wurde. Er hat seine eigenen Sieger und Verlierer. Zu den Letzteren ist vor allem die Sowjetunion zu zählen. Deren Führung wollte nicht zur Kenntnis nehmen: „Klugheit ist Erkennen der Grenzen; höchste Klugheit ist Erkennen der eigenen Grenzen.“ Werden die frisch gebackenen Sieger klüger sein als die Verlierer? Die Zeit wird es erweisen. Vorläufig besteht kein Anlass für besonderen Optimismus. Auf Anständigkeit zu setzen erscheint mehr als naiv. Es ist eher am Platze, an den Pragmatismus zu appellieren und dabei Voltaires sarkastischer Worte zu gedenken: “Wenn ihr die Denkmäler stürzt, lasst die Sockel stehen – sie könnten noch gebraucht werden.“
Valentin Falin aus: „Zweite Front“, Die Interessenkonflikte in der Anti-Hitler-Koalition (Epilog), Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur 1995.