1. Mai

„Wir haben den 1. Mai auch in der Nazizeit gefeiert, im kleinen Kreis unter Freunden. Rote Blumen waren immer da.

Mein allerschönster 1. Mai aber war der 1. Mai 1945.

Als Häftlinge des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück wurden wir noch in den letzten Apriltagen aus dem Lager getrieben. Am Morgen des 30. April schallte es durch den Lautsprecher: „Alle deutschen Frauen an den Straßenrand!“ Wir berieten uns kurz und beschlossen nicht hinunterzugehen. Zum ersten Mal folgten wir einem Befehl der SS nicht. Nach einigen Stunden stellten wir fest, dass sie sich abgesetzt hatte. Eine stundenlange, nicht enden wollende Stille bricht an. In der Nacht steht ein junger Rotarmist vor unserem Erdloch, der uns verständlich macht, wir sollen in unseren Unterständen bleiben, er gehöre nur zur Vorhut.

Am Morgen, es ist der 1. Mai 1945, begrüßen uns russische Offiziere und Soldaten. Einer sagt in bestem Deutsch: „Guten Morgen, liebe Frauen. Ihr könnt nach Hause gehen. Ihr seid frei!“ Ich höre ihn noch.

Es ist ein herrlicher Sonnentag, dieser 1. Mai. Auf der Straße zieht die sowjetische Armee vorbei. Auf jedem Panzer stehen vorn zwei baumlange junge Rotarmisten. In ihren Händen lange rote Fahnen, die im starken Wind flattern. Es ist, als seien sie zu unserer Begrüßung angetreten. Wir lachen und weinen, wir winken und grüßen.

Auf einmal breitet sich eine große Stille aus, und dann braust ein Lied auf – in vielen Sprachen gesungen: Völker, hört die Signale!“

Katharina Jacob

Zitat aus dem Buch „Widerstand war mir nicht in die Wiege gelegt“ von Katharina Jacob, ISBN: 978-3-948478-06-3, Verlag: Galerie der abseitigen Künste. Erscheinungsdatum: Mitte Mai 2020 (siehe auch unter: Bücher).