Die Geschichte der Telemanngruppe
zu ihrem 15-jährigen Bestehen im Frühjahr 1947 von Albert (Ali) Badekow
Wenn ein Kreis von jungen Menschen über 15 Jahren zusammenhält, über Jahre die uns das grenzenlose Grauen des Krieges brachten, die uns immer wieder auseinanderrissen, in alle Welt zerstreuten und doch schließlich wieder zusammen führten, wenn der Terror der Gestapo unseren Kreis wohl vorübergehend schwächen und auflösen, aber nicht zersprengen konnte, dann muss etwas tiefes, verbindendes zwischen uns bestehen. Wir haben niemals groß über diese unsichtbaren Fäden von Mensch zu Mensch gesprochen, vielleicht haben wir nicht einmal besonders darüber nachgedacht. Aber wir haben sie von tiefstem Herzen erlebt und empfunden. Und das ist viel, viel mehr! Eine Gemeinschaft lässt sich nicht theoretisch aufbauen oder aus gutgemeinten Reden zusammenleimen. Sie muss erlebt werden und organisch wachsen. Ich will mich daher auch vor dem „Zerreden“ dieser, unserer schönsten und wertvollsten seelischen Inhalte hüten. Aber wir wollen einmal zurückblickend den Wurzeln unseres Kreises nachgehen, wollen noch einmal ganz kurz die vergangenen Jahre durcheilen. Vielleicht gibt es uns in dieser harten Zeit den Mut, den Kopf etwas höher zu tragen und noch stärker das zu empfinden, was uns Mut und Vertrauen gab, was uns in dunklen Stunden im Gefängnis, in den Kellern der Gestapo vor der fatalistischen Verzweiflung, vor der Preisgabe unserer besten menschlichen Substanz bewahrt hat.
Unser Kreis ist nicht starr in sich geschlossen geblieben. Neue Menschen kamen zu uns, blieben, oder wurden – ebenso wie viele alte Freunde – durch Eingriffe des Schicksals wieder von uns getrennt. Aber der alte Gruppengeist rettete sich auch durch diese Fluktuation, übertrug sich auf unsere neuen Freunde und lebte in ihnen weiter. So können wir auch heute noch vom Telemännergeist reden, wenn auch von der alten Schar nicht mehr viele unter uns sind.
Die alte Schule in der Telemannstrasse in Eimsbüttel war die Keimzelle unserer Gruppe, die ursprünglich nur aus deren ehemaligen Schülern bestand. War es mehr oder etwas anderes als jene Schülergruppen, die sich an fast jeder Schule bilden und mehr oder weniger oft zusammenkommen, zuweilen noch einige Jahre nach der Schulentlassung, schließlich aber doch zerfallen? Unterschied sich die Schule so sehr von anderen Schulen, dass wir ein Recht haben, sie immer wieder herauszustreichen, oder ist das nur der normale Korpsgeist, der sich in jeder freiwilligen oder zwangsläufigen Zusammenfassung junger Menschen heranbildet? Äußerlich wohl kaum. Das alte, rote Backsteingebäude zwischen dem Heussweg und der Telemannstrasse fiel eher etwas ab gegen die prachtvollen, modernen Klinkerbauten der Schuhmacher – Ära. Auch ein flüchtiger Blick ins Innere ließ noch nicht viele Unterschiede erkennen. Es war eben eine Schule wie jede andere auch, die Standardausrüstung an Schulbänken, Lehrmitteln, die Art und Größe der Klassen waren so, wie man sie überall kennt. Ist es nicht vielleicht doch nur kleinlicher, engster Lokalpatriotismus, der uns die Telemannschule als etwas Besonderes empfinden ließ? Aber selbst das wäre schon abnormal, denn in der Regel vergisst man seine Schule sehr schnell nach der Entlassungsfeier mit ihren salbungsvollen Abschiedsreden und die Erinnerung registriert zumeist nur kleine Episoden des Schullebens oder das Bild des einen oder anderen Lehrers, das vielfach mit dem Beigeschmack des Lächerlichen gewürzt ist. Aber so ist es bei uns nicht.
Es ist das doch etwas ganz Anderes als engstirniger Lokalpatriotismus. Die Telemänner sind in der (ganzen) Welt zu einem Begriff geworden. Das klingt vielleicht nach unberechtigter Überheblichkeit. Aber ich denke dabei an ein kleines, unvergessliches Erlebnis, dass ich vor ein paar Jahren tausende Kilometer von hier hatte: Ich saß im Bibliotheksraum eines kleinen amerikanischen Colleges in einem abgelegenen Winkel des Staates Rhode Island und blätterte in Werken über Jugendbewegung, Jugendpflege und Erziehung. Da sprang mir plötzlich ein Bild in die Augen: Menschen die ich kannte in dem mir so vertrauten Zeichensaal unserer Schule. Es war das in amerikanischen Erzieherkreisen allgemein bekannte Standardwerk „New Pathways in Education“. Über mehrere Seiten schilderte der Verfasser in warmen, anerkennenden Worten seine Eindrücke von den Hamburger Versuchsschulen, insbesondere der Telemannstrasse. Ich eilte zu der Bibliothekarin – einer jungen französischen Lehrerin, die erst seit Kriegsausbruch in Amerika lebte – um ihr meinen Fund voll Stolz zu zeigen. Mein Erstaunen ging ins Unglaubliche, als auch für sie sowohl die Hamburger Lichtwarkschule als auch die Telemänner ein fester Begriff waren.
Verzeiht mir diese kleine Schwärmerei – aber dieses Erlebnis ist heute noch so wach in mir, als wäre es gestern gewesen. Was war denn nun eigentlich das Besondere, aus dem üblichen Rahmen fallende der Schule Telemannstrasse? Sie war mehr als ein Lern- Institut um totes Wissen zu vermitteln. Sie war eine große Gemeinschaft von Eltern, Schülern und Lehrern. Es waren in ihr keine „Pauker“ im alten Stil zu finden. Sie waren Freunde und Kammeraden im besten Sinne des Wortes. Es gab keinen Zwang, schon gar keine Prügel- oder Strafen der alten Schule. Aber die völlige Freiheit, die sich z.B. auch in der weitgehendsten Selbstverwaltung der Schüler auswirkte, führte nicht zu Unordnung oder zu zügellosem Schlendrian. Im Gegenteil! Die aus freiwilliger Einordnung in die Gemeinschaft geübte Selbstdisziplin bedurfte sehr selten des Eingriffs der selbstgewählten Ordner und Obleute. Zwar ging es zuweilen recht lebhaft zu. Man saß nicht immer mucksmäuschenstill auf den Schulbänken. Das wäre unnatürlich gewesen und vielmehr ein Zeichen von fehlender Anteilnahme und verschüttetem jugendlichen Elan. Es wurde sehr häufig heiß und heftig diskutiert, denn das bloße rezeptive Aufnehmen des Stoffes war verpönt. Es sollte zum festen Besitz erarbeitet werden. Man wollte den jungen Menschen zum selbständigen und positiven Denken und Handeln erziehen, ihm die Grundlagen für das Leben geben, damit er seinen Platz in der Gesellschaft ganz ausfüllen kann und mit vollem Bewusstsein in den geistigen , kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Problemen seiner Zeit steht. Deshalb ständige Anregung zur Kritik und zum Mitdenken, deshalb Ablösung der Pauker-Autorität durch den beratenden und anregenden Freund. Wer selbst um die Fragen seiner Zeit gerungen hat, besitzt nicht nur eine lebendige, jederzeit entwicklungsfähige, starke und feste Grundlage, er ist auch tolerant und weiß das Ringen seiner Mitmenschen und die Stufen ihres notwendigen inneren Kampfes zu achten soweit sie echt sind und aus ehrlichem Herzen erwachsen.
Ein selbstverständliches Prinzip war die Koedukation, die gemeinsame Erziehung von Jungen und Mädeln. Warum sollte man auch eine gegenüber dem wirklichen Leben willkürlich erscheinende künstliche Trennung durchführen. Sie wirkt sich niemals positiv aus, sondern führt viel eher zu einer unter scheinbar glatter Oberfläche verkapselten muffig-schwülen Atmosphäre mühsam im Zaum gehaltener Spannungen. Dagegen entwickelte sich aus dem ständigen Zusammenleben der Jungen und Mädel ein freies und frisches Verhältnis, das aus der Verschiedenheit der Geschlechter beim Herangehen an die geistigen und musischen Werte ungemein angeregt und befruchtet wurde.
Das Leben der Schule war nicht nur auf die Vormittagsstunden gerichtet, die der ernsten Arbeit gewidmet waren – es erstreckte sich auch über die Freizeit und knüpfte hier an die natürlichen Wünsche und Interessen der Kinder und Jugendlichen an. Selbstverständlich vollkommen freiwillig. Chor und Musikantengruppen, Leseclubs und Bastelwerkstätten, Laienspiel – und Volkstanzkreis entwickelten eine rege Aktivität und belebten Schulferien und das jährliche große Sommerfest im Stadtpark. Der Zentralpunkt dieser großen Arbeits- und Lebensgemeinschaft war aber das Landheim in Neugraben. Es war ursprünglich aus eigenen Mitteln der Eltern, Lehrer, Freunde und ehemaligen Schülern mit viel Liebe und unter oft großen Schwierigkeiten in harte Arbeit aufgebaut worden. Und es hat den Einsatz gelohnt, denn es wurde der Kraftquelle der ganzen Telemännergemeinschaft, eine Stätte des Frohsinns und der Besinnung. Unvergesslich bleiben wohl allen die Sonnenwendfeiern am Akazienberg. Wenn nach der eigentlichen Feier die ersten Paare durch das Feuer sprangen, war dies mehr als ein zum starren Ritual gewordenes Symbol, war Verkörperung der tiefen, beglückenden Gemeinschaft. Diese innige Freude fand dann ihren Ausdruck im fröhlichen Tanz um die nur noch verhalten lodernde Glut, bis in den frühen Morgen.
Ist es nicht ein natürlicher Wunsch, wenn es uns trieb dieses Gemeinschaftserlebnis mit Hinauszunehmen ins Leben, es zu pflegen, zu vertiefen, zum festen Bestand in dem grauen Alltag des beruflichen Lebens, als beglückendes Bewusstsein und Quell der Freude im harten Existenzkampf, als festen Pol in der Zerrissenheit der an allen tiefen menschlichen Bindungen zerrenden, verflachenden Zeitströmung? So entstand unsere Gruppe. Ohne Programm, ohne Statut, ohne starre Ausrichtung auf ein konkretes Ziel, lediglich als Verkörperung unserer Sehnsucht nach echter Freude, nach Erweiterung und Vertiefung unseres Ich im Anderen zu etwas größerem, schöneren.
Und von diesem Geist waren wir ganz erfüllt, er durchdrang alles was wir als Gruppe begannen und durchlebten. Es gab kaum noch ein privates Leben, die Gruppe hatte uns total erfasst, ließ uns alle kleinen persönliche Nöte vergessen. Es war für mich – und ich glaube für uns alle – der höchste Ausschlag unseres bejahenden Lebensgefühls, die feurig lodernde und doch in sich ausgeglichene Blütezeit unseres Lebens. Wir denken oft an diese Zeit zurück, immer wieder ziehen wir in Gesprächen Vergleiche und Parallelen – oft auch mit der wehmütigen Resignation der Trauer um das Verlorene, aber viel mehr noch mit dem Gefühl der Aufrichtung an diesem schier unerschöpflichen Born erquickender Erinnerung.
Es ist schwer, ja es scheint mir unmöglich, aus der Gesamtheit dieses Abschnitts unseres Gruppenlebens einzelne Momente oder Ereignisse herauszugreifen. Alles ist zu einem schönen, farbenfreudigen Teppich verwoben. Es gibt keine klaren Einzelkonturen, eins lebt und wirkt im anderen. Es ist wie eine große Symphonie. Wollten wir einen einzelnen Ton herausgreifen, so klingt es farblos, nackt und lässt uns nicht einmal den jubelnden harmonischen Zusammenklang ahnen, dem er entsprang. Ich will mich deshalb auch nicht in kümmerlichen Bruchstücken und Details verlieren. Was besagen sie schon. Es gibt doch wohl eine Grenze der Reproduzierbarkeit innerster Erlebnisse. –
Ich möchte nicht den Eindruck erwecken als führten wir ein in sich abgeschlossenes, sektiererisches Dasein, fern vom bewegten Leben der damaligen Tage. Wir hatten ein helles Ohr für die Stimmen der Zeit und für alles, was um uns – offen oder versteckt – geschah. Wir überhörten nicht die Mahner vor dem drohenden Zusammenbruch unserer Kultur. Die Marschtritte der von den Nazis gesammelten und organisierten Reaktion erklangen lauter und lauter. Unser banges Ahnen der anbrechenden finsteren Zeit machte uns hellhörig, ließ uns fester zusammenstehen. Wir bemühten uns, im Heilgeschrei der mit billigen Ködern angelockten, blind ins Verderben marschierenden Massen den Blick klar zu halten und waren bereit für unsere, im ehrlichen Bemühungen und aus heftigen, nächtelangen Diskussionen kristallisierte antifaschistische, sozialistische Weltanschauung einzutreten. Wir erlebten, wie, nachdem kaum die Brandfackel des ersten großen Betrugsmanövers der Nazis verraucht war, eine Errungenschaft der fortschrittlichen Arbeiterbewegung nach der andern vor der geballten Wut der Reaktion zerbarst. Wir unterbrachen eine schöne Frühlingsfahrt in die Geesthachter Heide, um mit den bewussten Kräften der revolutionären Arbeiterschaft trotz Verbot und Terror an der Maidemonstration teilzunehmen. Und dann erlebten wir den 10. Mai 1933, den Generalangriff auf das, was deutsche Kultur und Wissenschaft der fortschrittlichen Menschheit zu geben hatte: Auf dem Opernplatz in Berlin loderte ein Scheiterhaufen, angelegt von SA – Horden, in dem ein Buch freiheitliebender Deutschen Schriftsteller nach dem anderem demonstrativ verbrannt wurde. Die Stimmen eines Thomas Mann, Heinrich Mann, Franz Werfel, Jacob Wassermann, Arnold Zweig, Stephan Zweig und tausender anderer, deren Namen für die ganze Welt einen guten Klang hatten, sollten dem deutschen Volk nicht mehr erklingen. Die Schulen wurden zum Sprachrohr des Kadavergehorsams und überheblicher Rassenmythologie von der nordischen Herrenrasse. Das bunte und vielgestalte Leben der deutschen Jugendbewegung erstickte die Gleichschaltung und wurde durch die HJ zur Vorstufe des Kasernenhofdrills um bereitwilliges Kanonenfutter zu züchten. – Wir waren auf uns selbst gestellt – wollten wir nicht alles aufgeben, was an Schönem und an tieferen Werten in uns verankert war. Auch die Schule war uns verschlossen, wenn uns daran lag, unser Eigenleben im alten Geiste fortzuführen. Und uns lag sehr viel daran! Der Zentralpunkt unseres Gruppenlebens verlagerte sich zur Rothenbaumchaussee 77. In diesen großen, schönen Räumen führten wir die Gruppenabende durch, hier planten wir unsere Fahrten, schulten uns für den Kampf um den Fortschritt, schmiedeten Pläne um unseren Teil am Kampfe gegen den braunen Terror beizutragen. Aber wir schafften uns auch frohe Stunden durch Singen und Musizieren in einer Vollendung, die wir seitdem nie wieder erreicht haben. Von Zeit zu Zeit griffen wir wohl auch in den Schallplattenschrank. Den Titeln nach zu urteilen war es nur billige Unterhaltungs- oder Tanzmusik, wie z.B. “ Meiers Foxtrott“, “Waldeslust“ oder “Heinzelmännchens Wachtparade“. Aber die Etiketten waren nur zur Tarnung aufgeklebt. Aus dem Lautsprecher des Plattenspielers tönten uns ganz andere Klänge entgegen: die Songs aus der Dreigroschenoper, das Lied der Baumwollpflücker, die Ballade vom Nigger Jim, das Lied der Bergarbeiter und viele andere der zündenden und aufrüttelnden Songs von Ernst Busch.
Das Hauptziel unserer Fahrten in dieser Zeit war eine kleine Waldlichtung im Sunder. Ganz zufällig haben wir sie entdeckt, als wir einen kürzeren Weg nach Harburg suchten und uns durch ein schier undurchdringliches Gestrüpp einen steilen Berg hinaufkämpften. Der Platz war ideal zum Zelten geeignet und war trotz seiner geringen Entfernung von Harburg noch unberührt. Auch während des ganzen Sommers 1933 wurden wir hier niemals durch Sonntagsspaziergänger gestört. Noch heute liegen die rauchgeschwärzten Steine unseres Lagerfeuers an der gleichen Stelle Sie sind die stummen Zeugen unvergesslich schöner Stunden. Jeder Baum weckt hier frohe Erinnerungen. Ihr Rauschen untermalte unsere Lieder, wenn wir – was häufig geschah – die ganze Nacht um das Feuer hockten, wenn wir sangen, lasen, über das uns bewegende sprachen oder auch ganz stumm nebeneinander saßen, im stillen Wissen um den Anderen, dessen Gedanken und Gefühle sich – unausgesprochen – doch in derselben Bahn bewegten. – Dies alles klingt vielleicht wieder wie weltfremde Romantik im Stile der Jugendbewegung vor dem ersten Weltkrieg, die sich im Suchen um die “Blaue Blume“ im verworrenen Dickicht wirklichkeitsferner Mystik verlor. Wir haben niemals den Boden unter den Füssen verloren. Gerade die Verbindung des echten Wandervogelgeistes mit dem Streben nach bewusster Erfassung der kulturellen und geistigen Situation der Zeit war unsere Stärke – aus der wir Kraft schöpften für den unbedenklichen Einsatz um den Fortschritt. Und wir strahlten aus. Nicht nur durch direkte politische Tätigkeit, Verbreitung von Schriften und Flugblättern oder Diskussionen wirkten wir auf die Umwelt, nein, ebenso sehr durch unser geschlossenes Auftreten, wo immer wir gerade waren. Manchen zündenden Funken haben wir gelegt, wenn wir uns auf dem Bahnsteig niedersetzten, um die Wartezeit mit Singen und Musizieren zu verkürzen. Es war jedes Mal eine große Menschenmenge um uns, und wer ein feines Ohr hatte, konnte gar manches aus unseren Liedern entnehmen. Vielleicht waren wir oft zu unvorsichtig, aber wo immer wir wirklich leichtsinnig waren, ist niemals etwas passiert. Ich denke daran, wie ich einmal der von Harburg kommenden Gruppe entgegenging. In Ramelsloh hörte ich zuerst die wohlbekannten Klänge des “Asien bebe“ durch die abendliche Stille erklingen. Ich glaubte die Gruppe schon ganz nahe und konnte zuweilen sogar einzelne Stimmen unterscheiden. Ich eilte ihnen entgegen, es dauerte aber noch fast ½ Stunde bis wir uns trafen. In der Zwischenzeit hörte ich Wort für Wort alle revolutionären Kampflieder. Das war leichtsinnig, denn man konnte uns meilenweit hören. Es ging aber alles gut. Oder ich denke daran, wie einige von uns in Hamburg Flugblätter in die Briefkästen gesteckt hatten. Wir wollten getrennt marschieren, hatten uns aber doch schließlich auf der Landstraße wieder zusammengefunden und machten einen Klotz mit Marschliedern. Plötzlich blitzt vor uns eine Taschenlampe auf. Drei Polizisten per Rad. Mein erster Gedanke ist, man verfolgte uns wegen der Flugblätter. In meiner Tasche ist noch eins. Wir wollen noch darüber diskutieren, deshalb habe ich es in einer leeren Zigarettenschachtel versteckt. Ich griff natürlich sofort in die Tasche und schleuderte die Schachtel in den Graben, was infolge der Dunkelheit leicht möglich war. Unnötige Vorsicht: man wollte uns weder verhaften noch durchsuchen, sondern lediglich ermahnen, als marschierende Kolonne ein Schlusslicht zu führen. Als die Polizisten weiterfuhren, atmen wir auf. Eine Zigarette soll die leicht erregten Nerven beruhigen, aber in meiner Schachtel ist – ein Flugblatt (ich hatte die falsche Schachtel weggeschmissen).
Die schönste Fahrt dieser Periode war wohl die Sylvesterfahrt 1933/34 zum Haus Sonnenhöh, mitten im Walde zwischen Ramelsloh, Marxen und Brackel. Die Kälte schreckt uns nicht. Wir haben ein molliges Strohquartier. Trotz des Schnees legen wir auf einer Lichtung ein kleines Sonnenwendfeuer an. Am Tage waren wir von einer fast ausgelassenen Fröhlichkeit gewesen, hatten herumgetollt wie Schulbrüder. Aber jetzt am Feuer waren wir plötzlich von einem feierlichen Ernst. Hofften wir von dieser Sonnenwende, dass sie zur Schicksalswende würde? Als unsere Hände sich zum Kreis um die Flammen schlossen und wir den beethovenschen Opferchor “Die Flamme lodert“ sangen, ging ein ganz starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit durch uns alle. Die Hände schlossen sich noch fester und plötzlich – ganz impulsiv – tanzten wir um das Feuer, umarmten uns. Alles ohne Worte – sie hätten nur die innige Herrlichkeit und stille Weile dieser Stunde zerstört. Ja, es war unsere schönste Fahrt – und unsere letzte für eine lange, lange Zeit …
Wenige Tage darauf griff der Gestapo – Terror grausam in unser Gruppenleben. Wagge, Gerd und Ali waren seine ersten Opfer, Georg folgte etwas später. Es klingt wie ein Hohn, wenn man heute wieder die Urteilsbegründung, den Haftbefehl zur Hand nimmt: – Man warf uns die Abfassung, Herstellung und Verbreitung von Schriften und Flugblätter vor. Die Überschrift derselben lautete: Hitler bedeutet Krieg! Das war 1934. Wieviel musste das deutsche Volk erst erleben, um sich dies klarzumachen …
Die Gruppe war auseinandergerissen. Ihr aktivster, tragender Teil war in Gefängnissen, Zuchthäusern, Konzentrationslägern. Einige emigrierten, nach Dänemark, Frankreich, Amerika, Südafrika. Der Rest zerfiel, ging in die innere Emigration. Aber jeder einzelne, wo immer er auch war, trug ein Stück der Gemeinschaft in sich, hütete und bewahrte es, zehrte davon. Wenn wir uns zufällig trafen, bei einem Arbeitskommando in Kolafu, beim Wäscheempfang im UG, so war es ein Sonnentag, auch wenn wir kein Wort miteinander sprechen konnten. Eine heimlich geballte Faust, ein ermunterndes Hoch werfen des Koffers, ein lächelnder Blick können doch so viel ausdrücken. –
Ich vergesse niemals einen schönen Vorfrühlingstag im A – Bau des Hamburger UG. Es war ein Sonntag, ich lag in einer der Vorführungszellen. Durch das winzige, hohe Fenster war ein kleiner Ausschnitt des blauen Himmels zu sehen. Wenn ich den Schemel auf die Pritsche stellte, konnte ich vielleicht einen Blick aus dem Fenster tun. Es war nicht einfach, die Glieder waren mir noch wie gelähmt von der voraufgegangenen 6 – wöchigen ununterbrochenen Rückenfesselung im Keller des Kolafu. Doch ich schaffte es. Vor mir lagen die Anlagen des Holstenwalls im ersten Frühlingstag. Sonntagsspaziergängen; helle Kinderstimmen drangen schwach zu mir herauf, Mädchen in leuchtenden, bunten Kleidern durchkreuzten den kleinen Ausschnitt, der meine Welt bedeutete. Ich war recht wehmütig. Die Worte, die Goethe seinem Torquato Tasso sprechen lässt, kamen mir in den Sinn:
„Es gibt im Unglück keinen tiefren Schmerz,
als die Erinn`rung an vergang`nes Glück.“
Ich hatte das Gefühl einer uferlosen Verlassenheit und starrte in ohnmächtiger Schwäche auf die dicken, rostigen Eisenstangen zwischen mir und dem von duftigen Federwölkchen durchsetzten Maienhimmel. – Doch dann hörte ich von der Ferne, ganz leise einen vertrauten Klang:
Es wirkte wie ein elektrischer Schlag auf mich – unser Gruppenpfiff!
Ich antwortete und hörte wieder, stärker, ganz deutlich: e – h – e
Den Anfang des Liedes „Hoch, Kind, hoch wie der Sturmwind weht“ … Es war Gerd aus einem Zellenfenster der gleichen Häuserfront. Die Entfernung war zu groß zum Sprechen. Im Hofe ging auch ein Posten auf und ab. Aber der Pfiff hatte genügt, um eine lange Kette von Erinnerungen wachzurufen. Die Sonne schien plötzlich noch viel heller zu scheinen. Es war ein schönes Gefühl, zu wissen: dort hinten ist ein Kamerad, ein Kumpel, er sieht auf das gleiche, kleine Stückchen grünen Rasens, seine Gedanken durcheilen gleiche Bahnen. – Es war das letzte Zeichen der Gruppe für 4 lange, harte Jahre. Aber es hatte einen langen Nachklang.
Viel Düsteres lag über den Weg der meisten von uns. Der briefliche Kontakt konnte wegen der strengen Zensur und allzu häufigen Postsperren nur ganz selten aufgenommen werden. Unser Glaube an die Menschheit, an eine bessere Zukunft hatte harte Belastungsproben auszuhalten. Alles war angetan, ihn verkümmern zu lassen – auf den Feldern Hahnhöfersand, in den Zellen von Wolfenbüttel und Oslepshausen, den Torfmooren Esterwegens, in den Kiesgruben Sachsenhausens und in den Steinbrüchen Buchenwalds. Aber er verkümmerte doch nicht – und das ist wohl in erster Linie der Verdienst unserer Gruppengemeinschaft. Und deshalb lebte unser Gruppenleben auch sofort wieder auf, nachdem wir wieder ziemlich alle beisammen waren nach 4-jähriger Trennung.
Vor meiner Entlassung hatte ich von der Gestapo, wie alle, den bekannten Vordruck zu unterschreiben, in dem es u.a. heißt: „ich nehme zur Kenntnis, dass jede Wiederaufnahme der Verbindung mit ehemaligen Genossen eine erneute Inhaftierung zu Folge hat.“ Das hatte ich am Vormittag unterschreiben müssen – am Abend war fast die ganze Gruppe zu einer kleinen Begrüßungsfeier bei mir versammelt. Aber es war eine Veränderung in uns vorgegangen. Wir waren härter, bewusster geworden. Zwar schlug immer wieder die alte, unbeschwerte Fröhlichkeit durch, aber es blieb ein Unterton von Trauer, vom Wissen um den lastenden Terror des KZ, von der scheinbaren Hoffnungslosigkeit unseres Kampfes gegen den Stumpfsinn der Massen, gegen die “ Trägheit des Herzens“.
Unsere Zusammenkünfte waren ruhiger, besinnlicher. Es waren aber sehr schöne Abende bei Elim in der Hoheweide. Wenn man uns zuweilen spöttisch den „Kerzenclub“ nannte, weil wir das weiche, ausgleichende Licht der Kerzen dem gelben Lampenlicht vorzogen, so ist der damit angeschlagene ironische Beiklang des Sentimentalen absolut fehl am Platze gewesen. Die Entbehrungen der vergangenen Jahre, insbesondere an kulturellen Gütern, hatten uns aufgeschlossen gemacht für viele Schönheiten, an denen wir im ersten jugendlichen Sturm und Drang achtlos vorübergingen. Die Zeit war so arm an tieferen Werten – und wir waren so ausgehungert. Innere Aufnahmebereitschaft für Lyrik wird ja leicht mit ihrem Gegenteil, der aus geistiger Armseligkeit entspringenden Sentimentalität, verwechselt.
Wir konnten auch nicht mehr wie früher mit 20 – 30 Mann auf Fahrt gehen. Das wäre bei der verschärften Wachsamkeit der Gestapo der Vorkriegsjahre Selbstmord gewesen. Außerdem waren wir auch stark zusammengeschrumpft. Trotz allem können wir auch auf so recht zünftige Fahrten in dieser Zeit zurückblicken. Seltsame Erlebnisse hatten wir dabei zuweilen. Etwa unsere Osterfahrt zum „Bartghandi“ (bürgerlichen Namens Dr. Fränzel) in Glüsingen. Es war eine beschwerliche Anfahrt per Rad, das wir allerdings stundenlang durch Sandwüsten schieben mussten. Dafür überraschte uns am Ziel die Schönheit dieses Fleckchen Erde umso mehr. Noch heute werden unsere Lachmuskeln stets gereizt, wenn wir an das erste Zusammentreffen mit dem „Bartghandi“ denken: Wir ziehen ins Dorf ein und sehen vor uns, mitten auf der Landstraße einen Mann mit übergeschlagenen Beinen sitzen. Ein dichter, buschiger Vollbart bedeckt die Brust bis zum Bauchnabel, im Übrigen ist er splitternackt. Auf den Knien balanciert er eine Reiseschreibmaschine und tippt emsig weiter, auch als wir mit mühsam verbissenem Lachen stehen bleiben. Es ist aus mit unserer Beherrschung als er plötzlich aufsteht und uns mit den pathetisch deklarierten Worten: „Heil euch Kindern des Lichts“ begrüßt. Wir hatten den Eindruck, dass er sowieso nicht damit rechnete, ernst genommen zu werden. Das von ihm gegründete und geleitete „Jugendheim“ war recht einladend. Wir hätten uns sicher recht wohl gefühlt, wenn es wirklich ein Jugendheim gewesen wäre. Wir sahen aber nur würdige, alte Damen, allerdings z.T. noch mit der Schneckenkranzfrisur der Jugendbewegung der Jahrhundertwende geziert. Aber auch das hätte uns noch nicht allzu sehr gestört, wenn uns nicht bekannt gewesen wäre, dass der Bartghandi ein eifriger Verfechter der Nacktkultur sei und sein Heim speziell für seine Jünger gedacht war. Wir haben niemals die Nacktkultur als ein Problem angesehen. Wenn es sich ergab, haben wir auch ohne Zwickelhosen gebadet ohne prüde zu sein, aber auch ohne ein Prinzip daraus zu machen. Warum soll man denn die Schönheit eines Jugendlichen Körpers unbedingt verbergen. Zu erotisches Problem hat daraus erst die muffig – schwüler Phantasie der Spießbürger und ihre verlogene Moral gemacht. Aber der Gedanke an die rundlichen Matronen unter Dr. Fränzels Jüngerschar ließ uns einen kalten Schauer über den Rücken laufen und die Grenzen der Leibesästhetik erkennen. Kann man es uns also verdenken, dass wir alle Einladungen zu Musik- und Singeabenden, und erst recht zu einer Volkstanzveranstaltung höflich abschlugen.
Wir hatten auch etwas viel schöneres vor: In Glüsingen ist eine wunderschöne alte Kirche. Das Prachtstück derselben ist jedoch die Orgel. Wir hatten schon dem weichen vollem Klang des Instrumentes gehört und wollten es nun einmal selbst probieren. Der Küster ließ mit sich reden und vertraute uns den Kirchenschlüssel an. Ernst hat dann zum ersten Male in seinem Leben aktiv musiziert, in dem er eifrig die Bälge trat. Friedel spielte zunächst Präludien + Fugen von Bach und Telemann, später ging sie zu Beethoven über. Gerd hatte seine Geige mitgenommen, Ali die Flöte. Es war für mich das schönste musikalisch Erlebnis im Rahmen der Gruppe bis auf den heutigen Tag. Wir saßen noch lange nach dem Abklingen des rauschenden Finales ergriffen – schweigend und regungslos in den Bänken. Knarrende Tritte auf der Treppe zur Empore zerstörten plötzlich die feierliche Stille. Ein dicker, ächzender und prustender Mann tauchte auf, der sich – nachdem er erstmal gehörig nach Luft geschnappt hatte – an Friedel wandte mit der Frage: „Können Sie Klavier spielen?“ Aus seinen, sich überpurzelnden Worten wurden wir zunächst nicht ganz schlau. Schließlich reimten wir uns zusammen, dass er einen Musiker für sein Lokal suchte. In unserer Stimmung erschien uns dies als eine starke Zumutung. Friedel lehnte schroff ab. Aber der Mann lies nicht locker. Er stellte sich uns als Besitzer des Dorfkruges vor, indem gerade das alljährliche Turnerfest steigen sollte. Er hatte für den anschließenden Ball eine Musikkapelle aus Lüneburg bestellt, aber man hatte ihn in Stich gelassen. Nun war es sehr in Druck. Er redete und redete, er versprach Bomben – Gagen und wollte sich nicht abschieben lassen. Allmählich war unsere erhabene Stimmung zerredet. Die ganze Situation begann uns zu amüsieren. Wir lenkten ein und erboten uns, eine ganze Kapelle von 4 Mann zu stellen und verlangten dafür RM 15.- pro Kopf. Er war sofort einverstanden (und wir bedauerten, keinen höheren Preis verlangt zu haben).
Wir hatten noch niemals richtige Tanzmusik gemacht. Aber jedenfalls sahen wir wie eine richtige Zigeunerkapelle aus. Besonders Gerd wirkte sehr echt, unser Stehgeiger. Er hatte seine alte Lodenpellerine während des ganzen Abends um die Schulter hängen. Es sah wirklich sehr malerisch aus. Friedel saß am Klavier. Um die Schultern hatte sie ein knallbuntes Halstuch gelegt, dessen Dreieckspitze bei jeder Bewegung lustig auf und ab wippte. Auch das war durchaus stilecht. Der Rest dieser kleinen Kapelle – Heinz und ich – sah nicht weniger verwegen aus. Wir wechselten zwischen Gitarre, Flöte sowie einem im Krug vorgefundenen Quetschkasten und einer B–Klarinette, je nachdem, wie es gerade zu passen schien. Das größte Problem war für uns ein abendfüllendes Repertoire. Wir begannen mit einem zackigen Marsch (Deutschmeister). Es klappte großartig. Klatschen. Zweimalige Wiederholung. Dann ein Walzer. Auch gut und mit viel Schwung. Aber was nun? Wir versuchen es mit einem Tango. Misserfolg! Kaum 4-5 Paare auf der Tanzfläche. Zum Glück sagt uns jemand, dass moderne Tänze nicht gefragt sind. Man will Märsche, Walzer, Polkas. Damit ist uns ein Alpdruck genommen. Wir spielen drauflos. Improvisieren. Wenn´s mal mit uns nicht so ganz klappt, haut Friedel etwas stärker auf die Tasten. Ich spezialisiere mich mehr und mehr auf die Klarinette, Heinz übernimmt die Quetsche. Man ist sehr zufrieden mit uns. Eine Runde nach der anderen wird vor uns aufgefahren. Dazu Teller mit Bergen gut belegter Brote und kaltem Fleisch. Wir haben alle uns bekannten Walzer + Märsche schon mindestens einmal wiederholt, dazu alle Lieder im Marsch – oder Walzertakt. Die M ist gründlich umgekrempelt. Es ist 12 Uhr. Die vereinbarte Zeit ist um, aber man will uns nicht gehen lassen. Für einen Zusätzlichen Betrag von RM 5.- pro Mann, geben wir noch eine Stunde zu. Wir haben 80.- verdient – und das war damals noch allerlei Geld. Außerdem haben wir gelebt wie im Schlaraffenland uns schließlich hat es uns selbst am meisten Spaß gemacht, wenn wir auch todmüde geworden sind und Friedel geschwollene Finger hat. Wir können ja etwas länger schlafen und durch die Sandwüste fahren wir bestimmt nicht wieder. Wir können es uns ja jetzt leisten, einen Bauernwagen bis Lüneburg zu mieten und dort die Räder aufzugeben. –
Im Herbst 38 treffen wir im Sunderhof mit dem Knust-Gymnastik–Kreis zusammen. Wir machen weitere gemeinsame Fahrten dorthin und als der Knust- Kreis sich schließlich auflöst, wird der Rest unserer Gruppe um einige aktive Leute reicher. Es gibt wieder einen neuen Auftrieb, viele zünftige Fahrten im alten Stil erwachsen daraus. Wir haben neue Quartiere ausgemacht: den Reiherhorst, das frühe Heim der Landeskunstschule am Lühnhuserdeich, Kolmar, und dann das Forsthaus in Heimbruch. Es war ein hoffnungsvoller Wiederbeginn im vergrößerten Kreise. Eine Zeitlang findet man uns jedes Wochenende auf Fahrt. Zwischendurch steigt auch manch fröhliches Fest im eigenen Kreis oder durch gemeinsamen Besuch des Volkshochschul- und des Künstlerfestes. – Aber inzwischen ist der Krieg ausgebrochen und wiederum wird unsere Gruppe auseinandergerissen. Die ersten Opfer im Freundeskreis werfen einen Schatten über den verbliebenen Rest. Hans Reitze bleibt im Osten, Rudel Klug wird wegen illegaler Arbeit in Norwegen erschossen, Addi + Otto Gröllmann sind zum Tode verurteilt und müssen ein nervenaufreibendes illegales Wanderleben führen.
Und dann schließlich der Zusammenbruch der Nazi – Herrschaft. Wie sehr haben wir diesen Tag ersehnt – und mit wieviel Opfern musste das deutsche Volk ihn erkaufen. Noch jahrzehntelang haben wir an den Folgen des Nazismus zu leiden. Haben wir überhaupt noch Hoffnung auf normale Zeiten? Kann es für uns überhaupt noch etwas anderes als den täglichen Kampf ums nackte Dasein geben? In dieser Atmosphäre fanden sich die Reste unseres Kreises wieder zusammen. Ist es nicht absurd, in einer Zeit, in den man nur noch zum Hamstern über Land geht, an Fahrten zu denken, oder zu singen und zu musizieren, während die Hungerrationen noch weiter abgebaut werden, über Fragen von Kunst + Literatur zu diskutieren, während es um Sein oder Nicht– Sein geht. Nein, es ist nicht absurd!
Unsere Zeit ist hart und freudlos. Aber trotzdem – oder vielmehr – gerade deshalb müssen wir uns wieder viel stärker auf das besinnen, was uns schon so viel gegeben hat. Wir wollen Suchen nach dem Schönen, Erfüllenden, wir wollen Freude haben an unseren Liedern und an dem Lied – und Musiziergut, dass wir uns noch erschließen werden.
Unsere Zeit ist auch geistig – ideologisch und weltanschaulich zerrissen. Das belastet uns genauso, wie der dauernde Anblick der Trümmer. In uns ist vieles zerbrochen, an manchen alten Idealen nagen die Zweifel. Das geistige und kulturelle Neuland ist noch wenig befahren und führt durch ein wildes, dorniges Gestrüpp. Aber wir haben den festen Willen und den unentwegten Pioniergeist unseren Weg zu finden. Wir wollen nicht den kennenden Fragen unserer Zeit aus dem Wege gehen, nicht wie der Vogel – Straus den Kopf in den Sand stecken. Als Einzelner bleiben wir gar leicht auf dem kaum begonnenem Wege stecken – gemeinsam werden wir es schaffen. Wie den Gipfelstürmern das haltende Seil, so sollen uns die tausend verbundenen Fäden über gefährliche Klippen und Spalten hinweghelfen. Die Wiedersehensfeier der alten Telemännergemeinschaft im vorigen Jahre stand unter den Leitspruch „Ist einer mal müde, wir reißen ihn mit!“ Das möge auch unsere Parole werden.
Und wenn immer wir genug haben von all den kleinen und großen Sorgen des Alltags, dann packen wir unseren Affen und streifen alles bedrückende und beschwerende ab, um da draußen, weitab von allem Kümmernissen, privaten und beruflichen Ärger ganz einfach nur Mensch unter Menschen zu sein – und unser Leben zu leben.
In diesem Geiste bauten wir vor 15 Jahren unseren Kreis auf – und gleiche Gedanken bewegten uns im vergangenen Jahr zum neuen Beginn. Nur wenige sind noch von der alten Schar unter uns. Berufliche und familiäre Gründe führten manchen alten Kumpel von uns, andere wurden Opfer der Gestapo oder der Kriegsmaschine, die sie nicht in Gang zu setzen halfen. Von wieder anderen wissen wir gar nichts – sind sie als Kämpfer der internationalen Brigaden in Spaniens verzweifeltem Freiheitskampf gefallen, hat sie das Schicksal der Verfolgten in der Emigration ereilt?
Neue Freunde stießen zu uns, von gleichen Wünschen getrieben. Manches Schöne Erlebnis liegt schon hinter unseren kurzen gemeinsamen Weg. Unsere Fahrten an die Nordsee, nach Jesteburg und Bötersheim haben uns menschlich Näher gebracht. Wir haben uns in bewegten Diskussionen die Meinung gesagt und einander abgeschliffen. Wir werden auch in Zukunft noch viel aneinander zu feilen haben und durchaus nicht immer einer Meinung sein. Aber in den heftigsten Wortgefechten im Ringen und Fragen der Weltanschauung und unserer Stellung zum Leben und zu den Erfordernissen des Tages vergessen wir niemals das starke eigene Band: den ehrlichen Willen, aus dem geistigen Chaos herauszukommen, die Suche nach den höchsten Werten die uns Kunst und Literatur zu bieten haben, die Freude am Schönen und Echten, die Liebe zum Leben, das Verlangen nach Freiheit.
Darum muss unser Weg richtig sein. Wir wollen ihn unverzagt weitergehen. Ich glaube uns erwartet noch viel Schönes und tiefes Erleben.
(Abschrift des handschriftlichen Manuskripts, Hamburg 2020)