Rede von Rainer Naujoks über seinen Vater Harry Naujoks

Im Frühjahr 2018 wurde das neue Depot der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen eingeweiht u. a. mit einer Rede über den ehemaligen Lagerältesten Harry Naujoks (er war dort Häftling von 1936 bis 1942). Die Rede hielt sein Sohn Rainer Naujoks: 

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich habe mich sehr gefreut über die Einladung, zur Eröffnung dieser wunderbaren Einrichtung ein paar Worte sagen zu dürfen. Ich sehe mit Zufriedenheit und Genugtuung, dass der Nachlass von Harry Naujoks – der ja in nicht unerheblichem Maße auch meiner Mutter Martha Naujoks zu verdanken ist – als Teil des Archivs der Gedenkstätte einen nicht nur würdigen sondern auch angemessenen Aufbewahrungsort gefunden hat. Angemessen aus meiner Sicht deshalb, weil unter diesen Bedingungen gewährleistet bleibt, dass er erhalten wird als ein Teil all dessen, was diesen Ort – über seine Funktion als Ort des Gedenkens hinaus – zu einem lebendigen Lern- und Erfahrungsort macht.

Ich sehe noch heute den großen Raum im Keller unseres kleinen Häuschens in Hamburg – Klein Borstel (Kleine Stübeheide – alles war klein) vor mir – vollgestopft mit Regalen, Schränken, Kommoden – ein Sammelsurium unterschiedlichster Aufbewahrungsbehälter, überquellende Schubladen, nicht schließende Schranktüren, das Ganze ohne Heizung und mit einer Funzel als Beleuchtung. Das Archivierungssystem schwer durchschaubar – alles in allem vermutlich ein Alptraum für einen diplomierten Archivar. (Und links oben in einer Ecke die Krimis – Simenon, Chandler, Ellery Queen…) Der Rest der Wohnung voller Bücher und Kartons mit bedrucktem Papier an diversen ungewöhnlichen Orten. Es ist ja nicht nur bedrucktes und beschriebenes Papier, es sind auch Gegenstände aus seinem Leben. Sie können Auskunft geben über einige wichtige Abschnitte seines Lebens, und ihre Aufarbeitung können – wie ich behaupten möchte – wirkungsvoll eingebunden werden in ein Konzept von Bildung, dessen vornehmste Aufgabe es – mit Adorno – ist, dafür einzutreten, „dass Auschwitz nie wieder sei“.

Eigentlich müsste man ein dickes Buch über dieses abwechslungsreiche Leben schreiben (Harry und Martha) um Schicht für Schicht herauszufiltern, was das Besondere, das vielleicht ja auch gelegentlich Vorbildhafte ist, was zu bewahren wäre und was angeboten werden könnte für Menschen – vor allem junge, aber nicht nur – die bereit sind, sich auf den Gedanken einzulassen, dass es Parallelen geben könnte zwischen gestern und heute.

Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg – das war die Losung vieler aus dem KZ befreiten Häftlinge. Harry Naujoks war geradezu begierig darauf den Kampf dafür aufzunehmen und glaubte sich darin einig mit der Mehrheit der Menschen, vor allem der Deutschen, als er am 21.4.45 mit seinen Tagebuchaufzeichnungen über seinen Fußmarsch von Flossenbürg nach Hamburg beginnt. Kaum dem Tode entronnen und körperlich fast am Ende, macht er sich auf, „aus dem Trümmerhaufen … ein neues, freies, demokratisches Europa zu schaffen“, so beschreibt er es am 28. Oktober 1945. Im Verlauf dieser Wochen quer durch Deutschland (bei Google Maps sind das auf direktem Weg 520 km), wurde ihm immer wieder deutlich – nicht alle waren „geheilt“ und der Antikommunismus hatte alle Katastrophen überdauert.

Die Aufzeichnungen drehen sich – wen wundert es – überwiegend um Essen und Schlafplätze, aber er lässt sich keine Gelegenheit für politische Diskussion entgehen „Ich sehe und höre viel und kann meine Propaganda machen. Ich nehme kein Blatt vor den Mund, und wo man mich heute noch nicht versteht, wird man doch einmal an mich und meine Worte denken. Es ist schon wichtiger, dass ich zu Fuß durch Deutschland latsche, wenn es auch manchmal meine Kräfte bis zur Erschöpfung beansprucht“. „Ich bin der reinste Landstraßenprediger“ schreibt er am 16. Mai 45. Bei aller Erschöpfung findet er immer wieder Zeit, die Schönheit der Landschaft zu bewundern. Aber es treibt ihn voran, ungeduldig … “Es wird wohl zu viel Arbeit für mich da sein. Ich kann auch schon gar nicht erwarten, anzufangen“. Schon in diesen Tagebuchaufzeichnungen, aber auch in all den Jahren danach: kein Wort über die seelischen Verletzungen, die diese Zeit hinterlassen haben muss und die es zu bewältigen galt. Ich habe ihn nie gefragt danach, ich bin nicht auf die Idee gekommen. Begriffe wie „Traumatisierung“ gehörten damals nicht zu unserem Wortschatz. Hatte er Albträume? Wie ist er mit den Erinnerungen an die Schrecknisse umgegangen – jenseits der unermüdlichen Sammlung nüchterner Fakten?

Harry war humorvoll und lachte gerne, er hatte ein Standardrepertoire an sogenannten dummen Bemerkungen. Er erzählte selten Geschichten aus dem KZ, und wenn, nahmen die Ereignisse eher die Gestalt lustiger Begebenheiten an. Wie schrieb George Tabori mal: im Kern eines guten Witzes steckt immer eine Katastrophe – und wir erzählen uns Witze, damit wir die Katastrophen überhaupt ertragen können. Hinzufügen könnte man: Wenn man das Witzige weglässt, dann erzählt man eigentlich etwas Schreckliches. Franz Ballhorn, Sachsenhausenhäftling, schreibt 1946: „wie wird der Weg zurück sein? Schmerzhaft unbeholfen werden wir zu den früheren Lebensformen zurückfinden müssen. Die Gestapopsychose … wird uns nur langsam loslassen. Wir werden uns in den Straßen unserer Städte des Öfteren umwenden, vorsichtig, misstrauisch und argwöhnisch … die Welt ist weitergegangen, während wir als Konserven in der Gruft des Konzentrationslagers … dahinlebten. Wir werden mit der neuen Welt und sie mit uns Geduld und Nachsicht haben müssen“.

Bei Harry Naujoks findet man davon nichts. Durch die spärlichen Aufzeichnungen dieses 4-wöchigen Fußmarsches hindurch erkennt man Zielstrebigkeit, Optimismus, ja Kampfeslust. Er geht den Weg nicht als gebrochener Mann. „Ich bin kein Opfer“, sagte er gelegentlich. Er sah sich selber als Überlebender, als Sieger. Den Namen Franz Ballhorn übrigens habe ich noch gut im Gedächtnis, weil er bei uns gelegentlich erwähnt wurde. Mein Vater sprach mit größtem Respekt von ihm, dem tiefgläubigen Katholiken und CDU-Kommunalpolitiker. Ich vermute, dass es in Fragen der Weltanschauung und politischen Einschätzung, sowohl der aktuellen wie auch der NS-Zeit, nicht die geringste Übereinstimmung gegeben haben kann. Aber beide hatten aus der gemeinsamen Leidenszeit die wichtigste Lehre gezogen: Gesprächsbereitschaft, Verständnis, Bemühen um Empathie sind die absoluten Fundamente eines funktionierenden Miteinanders. Beide hatten etwas gelernt, was in Zeiten von politischem Imponiergehabe wieder in Vergessenheit zu geraten droht: Es braucht wenig Geschick, wenig Klugheit, mit jemandem gute, gar freundschaftliche Beziehungen zu pflegen, den man mag und der die gleichen Ansichten und Absichten hat wie man selbst. Wirkliche Klugheit, wirkliches Geschick, beweist man erst, wenn man sich mit jemandem verständigt (oder sich zumindest darum bemüht), den man nicht versteht, der anders denkt und handelt – um: Ja, um des lieben Friedens willen. Der Weg zur Erfüllung von „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ beginnt bei dem Apell an uns selbst: Weigern wir uns, Feinde zu sein.

Harry Naujoks war ein echter „Versöhnler“. Interessanterweise war das ja auch einer der Vorwürfe, die seine Partei ihm nach 1949 machte – zu einer Zeit, in der die KPD eigentlich alle Hände voll zu tun hatte, die Zeiten nach NS zu nutzen zu Stärkung anstatt sich intern in die Bedeutungslosigkeit zu zertrampeln. (Wie wir heute gelegentlich sehen, vermutlich eine angeborene Eigenschaft der Linken). Gleichzeitig war er der geborene Agitator. Auch im KZ hat er – trotz aller Widrigkeiten und Gefahren – nie aufgehört, Überzeugungsarbeit zu leisten. Bernhard Wicki sagte mal, dass er dem „großartigen Kämpfer“ Harry Naujoks nicht nur sein Leben, sondern auch viele Einsichten verdanke. Im KZ war ja eine zusammengewürfelte Gemeinschaft sehr unterschiedlicher Menschen, nicht nur im Hinblick auf Herkunft, Nationalität, Politik, Ideologie und Religion, sondern auch im Hinblick auf die Persönlichkeit. Harry hat hier manches gekittet, manches und manche miteinander „versöhnt“. Oft war er Anlaufpunkt und Ansprechpartner für miteinander Zerstrittene. Dabei war er konsequent im Vertreten seiner Ansichten, gleichwohl aber einfühlsam und verständnisvoll. Er war authentisch und integer, er selbst hat sich nicht schnell zerstritten, er war einer großen Toleranz Andersdenkenden gegenüber fähig. Und die Fähigkeit, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen: „was denkt der andere, wie sieht es aus seiner Sicht aus, was würde ich tun, wenn ich an seiner Stelle wäre“ hat ihm natürlich auch geholfen, wenn es darum ging, die Handlungen der SS einzuschätzen und vorauszusehen. Anders gesagt: er war auch schlau und hatte einen scharfen Verstand. Was verwundern kann, sagt man doch: wer mit 20 kein Revolutionär ist, hat kein Herz, wer mit 40 immer noch einer ist, hat keinen Verstand. Harry gehörte zu den Gegenbeweisen. Er hatte mit 40 und auch mit 80 durchaus noch Verstand, aber auch noch ein Herz.

Diese besondere Mischung aus Klugheit und Schläue hat ihn und andere in mancher brenzligen Situation mit der SS gerettet. Erwin Geschonnek beschreibt in seinen Erinnerungen so eine Situation auf dem Appellplatz. Geschonnek hält all das alles nicht mehr aus, ist kurz vorm Durchdrehen, als Harry, der als Lagerältester seine Augen offensichtlich überall hat, das drohende Unheil voraussieht und Geschonnek mit einem gezielten Faustschlag niederstreckt und ihm damit vermutlich das Leben rettet. Harry Naujoks zog Stärke aus einer festen Überzeugung und einer „klaren Linie“, was nicht hieß, unhinterfragt eine „von oben“ kommende Linie zu übernehmen – Sicher war es oft schwierig, die Treue zur Partei und Umsetzung der Parteibeschlüsse in Übereinstimmung zu bringen mit den konkreten Bedingungen und Gegebenheiten im Lager. 1:1 war das nicht immer möglich. Harry Naujoks saß auch schon mal zwischen den Stühlen. Aber er hatte keine Berührungsängste. Seit frühester Jugend Parteifunktionär, wusste er die Positionen der KPD beredt und kämpferisch zu verteidigen. Und wenn seine Erfahrungen – als Hafenarbeiter und Schauermann, als KZ-Häftling und Lagerältester, als „bürgernaher“ Parteiagitator und nach 1945 als Kandidat für die Wahlen zur Hamburgischen Bürgerschaft – also als jemand, der die tatsächlichen Probleme der Menschen in seinem Umfeld kannte – nicht kongruent zur verordneten Parteilinie waren, wusste er die innere Zerrissenheit (vielleicht auch mal Verzweiflung) gut zu verbergen und blieb authentisch, ehrlich und integer … – und das oft mit einem Augenzwinkern, mit dem er zu erkennen gab, dass er gerade die Quadratur des Kreises geschafft hatte. Das kannte er, damit konnte er umgehen. Sein Bemühen um Gemeinsamkeit mit den sozialdemokratischen Häftlingen in Sachsenhausen – für seine Genossen im KZ war das nicht immer selbstverständlich. Und sicher auch nicht für alle Sozialdemokraten. Werner Jacobi soll seinem geheimen Lager-Varieté den Namen „Lagersender Königs-Naujokshausen“ gegeben haben – liebevoll oder kritisch oder beides ein bisschen?

In einem Brief an meine Mutter beschrieb Mithäftling Pfarrer Werner Koch als eine von Harrys Stärken seine unverwüstliche Hamburger Vitalität. In einem Zeitungsartikel von 1949 über Harrys Arbeit in seinem Wahlbezirk HH-Wilhelmsburg heißt es: Wo immer er auftaucht, bringt Harry Leben in die Bude. Seine freie, ungezwungene Wesensart lassen sofort bei allen die Hemmungen fortfallen und auch der Schüchternste spürt, dass er Harry seine Sorgen und Nöte vertrauensvoll offenbaren kann. Als zweite Stärke beschreibt Werner Koch seine stetige Bereitschaft, neues zu beginnen. Ja, das ist auch so eine beachtliche Eigenschaft von Harry als auch von Martha. Das was hier als Nachlass im Archiv liegt, ist nach 1950 entstanden. Beide haben – nach Gefängnis, KZ oder Flucht in die Emigration, mit buchstäblich nichts wieder angefangen. Gleichzeitig haben sie – zum Erstaunen aller – eine Existenz als Kleingärtner begonnen. Mit der gleichen Sorgfalt, Disziplin und Umsicht. Fachzeitschriften wurden gekauft, Obst und Gemüse aller Arten angebaut und von Jahr zu Jahr fachkundiger gepflegt – ich weiß das, denn ich war an allem, mehr oder minder freiwillig, beteiligt. Unsere kleine Speisekammer konnte das Geerntete und Eingemachte kaum fassen. Das ist eine jener Facetten seiner Person, die möglicherweise aus dem Nachlass nicht hervorgeht, genau so wie seine Kochleidenschaft. Heute kann ich’s ja gestehen: ich habe nicht den gesamten Nachlass an die Gedenkstätte übergeben: Meta Adams Hamburger Kochbuch steht noch heute bei mir im Bücherregel. Und noch heute bedauere ich es, ihn nicht nach dem genauen Rezept für die Würzmischung für seine sauer eigelegten Gurken gefragt zu haben.

Dass er eine schöne Singstimme hatte und hervorragend Mundharmonika spielte, ist andernorts schon erwähnt worden. Er war übrigens auch ein ausgezeichneter Trommler, was er gelegentlich nach dem Essen unter Zuhilfenahme von Besteck und Essteller beeindruckend (und die Nerven meiner Mutter gelegentlich strapazierend) bewies. Gelernt hatte er das in einem Musikcorps, in dem er als Jugendlicher aktiv war – bei den sehr ärmlichen Verhältnissen, unter denen seine alleinerziehende Mutter seinen Bruder Henry und ihn durchbrachte, die einzige Möglichkeit, seiner Musikalität Ausdruckmöglichkeit zu verschaffen. Mithäftlinge haben später mehrfach berichtet, dass Harry bevorzugt Häftlinge aus Hamburg und Bezirk Wasserkante als Helfer aussuchte. Das sicherte Vertrauen und Verlässlichkeit in der Häftlingsselbstverwaltung. Wenn möglich, wählte er Mithäftlinge mit gleicher Parteizugehörigkeit. Das aber stand seinem Bemühen um Gerechtigkeit und Verständnis nicht entgegen, was im Lager ansonsten nicht immer selbstverständlich war. Der aus Polen stammende jüdische Häftling Leo Szalet berichtet, inhaftierte linke Widerstandskämpfer hätten ihn drangsaliert mit Schlägen und Worten wie: „Ich wäre faul wie alle Juden.“ An anderer Stelle beschreibt er dann seine Begegnung mit Harry – (ein Hinweis, den ich einem Brief von Prof. Morsch an meine Mutter entnehme): „Dann betrat der Lagerälteste den Raum. Er war ein freundlich aussehender Mann im mittleren Alter, selbst ein politischer Häftling, und hatte die Aufgabe, alle Blockältesten in Sachsenhausen zu überwachen. Er hatte das erste menschlich aussehende Gesicht, das ich im Konzentrationslager sah. Ein freundlicher, verstehender Ausdruck kam in seine Augen, als er vor uns stand. Ihr habt – so erinnert sich Leo Szalet an Harrys Worte – eine schwere Zeit hinter Euch und die beiden Schurken (gemeint sind die beiden kriminellen Blockältesten) werden dafür viel zu beantworten haben. Aber von jetzt an wird alles anders“.

Für Harry Naujoks blieb Menschlichkeit oberstes Gebot. Solidarität mit jedem Häftling, egal, wer da vor ihm stand. Gerade solche Häftlinge, die sich nicht aufgehoben bzw. aufgefangen wussten in einer z.B. auf Glauben oder politischer Zugehörigkeit fußenden Gruppierung, hatten es schwer, allzu schnell wurden sie, wie der Häftling Peter Heilbut schreibt, „letztes Prügelglied in der obwaltenden Lagerhierarchie“. Ich stelle mir das äußerst schwer vor: unter Bedingungen, in denen jeder nur eine Nummer war, seine Würde und seine Identität bewahren. Welches (kleine) Glück, wenn man Teil einer Solidargemeinschaft sein konnte. Franz Ballhorn beschreibt eindringlich, wie überlebenswichtig z.B. die geheimen Zusammenkünfte von Mitgliedern seiner Glaubensgemeinschaft waren. Jeder war zunächst mal sich selbst der Nächste; Vorurteile, Abneigungen und Vorbehalte waren mit der Einlieferung ins Lager nicht verschwunden. Welche schwere Aufgabe für eine Häftlingsselbstverwaltung, unter solchen Bedingungen nicht immer nur an sich selbst und an die Bewahrung eventueller Privilegien zu denken. Hat es ja alles vielfach gegeben, so mancher Funktionsträger konnte den Verlockungen der Macht (und war sie auch klein und ständig bedroht) nicht widerstehen. Harry ist integer geblieben.

In Flossenbürg hat sich ja diese Haltung für Harry selber ausgezahlt; ohne die Hilfe anderer Häftlinge (keine politischen, keine Genossen) hätte er nicht überlebt. Unterschiedliche Häftlinge halfen dort den 18 neu eingelieferten Kommunisten, den sogenannten Blaupunkten, obwohl die SS solche Hilfe unter Androhung des Todes untersagt hatte. In seinem Bericht über seinen Aufenthalt in Flossenbürg schreibt Harry: „Ich führe das darauf zurück, dass sie uns aus Sachsenhausen kannten. Wer uns nicht persönlich kannte, hatte unsere Namen gehört. Sie hatten unsere Taten gesehen oder davon gehört. Die große Solidarität aller Konzentrationäre war stärker als alle Mordbefehle Himmlers“. Als die 18 nach einem Jahr Bunkerhaft ins Lager verlegt wurden, wurden sie getrennt auf die Baracken verteilt, in denen polnische und russische Gefangene untergebracht waren. Lagerführer Fritzsch hatte das als Schikane gedacht. „Wenn er gesehen hätte“ schreibt Harry, „mit welchem Jubel wir in den Blocks empfangen wurden, hätte er sich die Pest an den Hals geärgert.“ Seine große Idee, mitzutun am Aufbau einer neuen, einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, hat ihn aufrecht gehalten. Daher rührte – wie er selber mal geschrieben hat – sein Lebensmut. Und darum hat meine Mutter nach ihrer Rückkehr aus der Emigration auch lange nichts erzählt über ihre Zeit in Moskau und ihre Erfahrungen unter dem Stalinismus. Eine Auseinandersetzung damit brauchte Zeit und Abstand zur Zeit im KZ, in der die Existenz der SU Kraft und Durchhaltevermögen gab.

Seine humanistische Grundhaltung gab ihm die Kraft, als Kommunist zu bestehen auch im Hinblick auf die Schandtaten, die im Namen des Kommunismus begangen wurden. Seine Weltanschauung stand Harry Naujoks nicht im Wege, sie hat ihn nie gehindert, Mensch zu sein und zu bleiben, anderen Menschen (Freunden oder nicht) ihre Würde zu lassen und Respekt vor ihrem Menschsein zu haben. Nicht zuletzt seine Bibliothek zeigt, dass er nie aufgehört hat, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie es den Nazis gelungen ist, den größten Teil eines Volkes für Hass und Krieg zu begeistern. Welche gesellschaftlichen Bedingungen waren es, die dazu führten, dass ganz normale Menschen zu Bestien wurden. Und überhaupt: Wie kann es sein, dass Menschen den Krieg für eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mittel halten und auch kein Problem damit haben, Auschwitz als Rechtfertigung dafür zu benutzen? „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ war doch die Lehre gewesen. Wie kann ich Humanismus predigen, wenn ich erstmal alle auslösche, die sich meinem Humanismus nicht unterordnen. „Ich bete immer, dass Menschen und Völker anderen nicht eine Hölle auf Erden bereiten“. Wie gut passt dieser Satz ins 21. Jahrhundert, das zurzeit so sehr von Kriegen, Anschlägen und Morden geschüttelt wird. Gesagt hat ihn Bogdan Debowski, der, 1928 in der Ukraine geboren, das Konzentrationslager Flossenbürg überlebt hat.

Menschen wie Harry Naujoks könnten zu Erkenntnissen darüber beitragen, wie man es schaffen kann, in einer Gesellschaft Mensch zu bleiben, in der Konkurrenzkampf, Egoismus, Narzissmus und Vereinzelung die Gleichgültigkeit und das Desinteresse am andern und am Wohlergehen aller fördert. Sie könnten dazu beitragen, die Bedingungen zu erkennen, unter denen Faschismus in allen Varianten überhaupt erst funktionieren kann: der Zwang zur Anpassung, die Unterordnung unter das Gegebene, die Identifikation mit der Macht, der Glaube, es gäbe keine Alternative … D.h. Erziehung zur Mündigkeit, was in einer Zeit, in der die Aufgabe der Bildung überwiegend in reinem Kompetenzerwerb gesehen wird. Und hinzuzufügen wäre allerdings: auch jemand der mündig ist, braucht eine bezahlbare Wohnung. Michel Friedmann hat das mal so formuliert: Geschichtslernen heißt: Ich muss mich konzentrieren auf die Strukturen, die Ursachen, die Verantwortlichkeiten. Wie viele Anfangspunkte der Gewalt wurden hingenommen? Wie sehr hat sich dadurch mein eigenes Koordinatensystem verschoben, bis es in eine Situation mündet, wo die Gewalt scheinbar nicht mehr aufzuhalten ist? Geistige und körperliche Gewalt findet aber bereits vorher statt. Immer wieder gibt es den Punkt, Nein zu sagen. Das müssen wir lernen, weil uns diese Fragen in der Gegenwart genauso betreffen.

Meine Frage zum Schluss: Inwieweit können KZler durch ihre Erinnerung als Zeugen genannt werden, nicht reduziert auf Zeugen des Grauens sondern als Beispiele für gelebte aktive Bürgerschaft? Und können sie das sein, wenn sie doch Kommunisten waren? Mit all ihren Widersprüchen und Irrtümern und Umwegen, allen Brüchen in ihrer Biographie? Wieviel „Potential für Zivilität“ ist aus dem zu extrahieren, was jemand wie Harry Naujoks uns als Bericht über sein Leben hinterlassen hat. Oder kann er – weil er Kommunist war, kein akzeptierter Zeitzeugenschafttranszendierender sein. Kann und will die Forschung solchen Menschen wieder Stimme geben? Es könnte deutlich gemacht werden, welche gesellschaftlichen Bedingungen es sind oder sein können, die autoritäre, undemokratische, militaristische, maskulinistische, antisemitische, nationalistische Denk- und Verhaltensweisen begünstigen. Nicht – verstehen sie mich bitte nicht falsch – indem man jungen Menschen Vorbilder aufdrängt, um ihnen zu zeigen, wie sie zu sein haben, wenn sie anständige Menschen sein wollen. Belehrungen und vorgefertigte Antworten werden da wenig helfen. Man wird kein glühender Demokrat, indem man das Grundgesetz liest. Aber: Demokratie ist nicht wie Fahrradfahren, das man – einmal gelernt – nicht wieder verlernt. Mir scheint, viele sind gerade wieder dabei, die Schrecken des Krieges zu verlernen.

Auch wenn die Ursachen des Faschismus je nach Ideologie unterschiedlich benannt werden mögen, so kann es doch möglich und erforderlich sein, jenseits dessen eine gemeinsame Stimme und Aktion finden. Da muss man Wissen, wann man Differenzen in den Vordergrund stellt und wo über diese hinaus Gemeinsamkeiten gefunden werden sollten, zumindest aber Grundlagen für eine Verständigung. Das ist für mich das Vermächtnis der Kzler. Ein solches Vermächtnis eignet sich nicht für eine Indienstnahme des Gedenkens durch eine Politik, die damit beweisen möchte, dass Deutschland seine Hausaufgaben in Sachen Gedenken gemacht und nun neue Verantwortung in der Welt übernehmen kann. Da können Wissenschaft und Forschung gewichtige Einsprüche machen. Gedenken, Erinnerungen, Wissen, Bildung – ein weites Feld. Ich freue mich über dieses neue Archiv und wünsche allen, die es nutzen, gute Gedanken, ein weites Herz, Multiperspektivität und ein gesundes Misstrauen gegenüber Denkschablonen, Denkgewohnheiten und Vorurteilen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.